Aus dem Programmheft: Animé

Im Jahr 1914 wurden in Japan erstmals US-amerikanische, britische und französische Kurztrickfilme gezeigt. Japanische Filmgesellschaften begannen daraufhin, Zeichner für die Produktion eigener Animationsfilme einzustellen. Die ersten drei japanischen Trickfilme, schwarz-weiß, stumm und mit einer Laufzeit von wenigen Minuten, wurden 1917 im Abstand von wenigen Wochen veröffentlicht.

Die Meister der Frühzeit

Der bedeutendste der frühen Pioniere war Seitar Kitayama. Sein Film Momotar? (Pfirsichjunge) aus dem Jahr 1918 lief 1921 in Paris und war damit der erste außerhalb Japans gezeigte japanische Trickfilm. 1921 gründete er das erste japanische Trickfilmstudio Kitayama Eiga Seisaku-sho, in dem nicht nur Unterhaltungsfilme, sondern auch Animationen für Lehr- und Ausbildungszwecke entstanden.

Einer der Technikpioniere der 1930er-Jahre war Kenzo Masaoka, der 1932 den ersten vollständig vertonten japanischen Trickfilm, Chikara to Onna no Yo no Naka (Die Welt der Macht und der Frauen), produzierte. Von ihm stammte auch der erste ausschließlich in Folientechnik animierte japanische Trickfilm aus dem Jahr 1934. Masaokas Assistent Mitsuyo Seo, der 1933 sein eigenes Studio gründete, sollte in den 1940er-Jahren eine wichtige Rolle bei animierten Kriegspropagandafilmen spielen.

Während der Tonfilm in den USA von Disney bereits regulär verwendet wurde, war er für den breitflächigen Einsatz bei japanischen Trickfilmen zunächst noch zu teuer und setzte sich erst Mitte der 1930er-Jahre als Standard durch. 1937 drehte Nobur? ?fuji mit dem Film Katsura Hime den ersten farbigen Anime und auch den ersten japanischen Farbfilm, abgesehen von Propagandawerken. Der erste farbige japanische Spielfilm wurde erst 1951 gedreht, der Farbfilm jedoch schon in den 1940er-Jahren für Propaganda genutzt.

Noboro Ofuji (1900–1961) gewann ab 1952 mit seinen Kurztrickfilmen Preise auf internationalen Filmfestivals.

Der erste animierte Nachkriegstrickfilm in Spielfilmlänge war Hakujaden, der vom 1956 gegründeten Anime-Studio Toei Animation produziert wurde und im Oktober 1958 in die japanischen Kinos kam. Er gewann zahlreiche Auszeichnungen. 1961 wurde er unter dem Titel Panda and the Magic Serpent als erster Anime in den USA gezeigt.

Bedeutenden Einfluss auf den weiteren Weg der Animationstechnik in Japan hatte Yasuo ?tsuka (geboren 1931). Als Mitarbeiter von Toei Animation entwickelte er zusammen mit dem Anime-Regisseur Yasuji Mori (1925–1992) den für die ersten Jahre charakteristischen Zeichenstil des Studios und war Mentor von Zeichnern wie Hayao Miyazaki und Isao Takahata, die später mit der Gründung von Studio Ghibli Weltruhm erlangten. Auf ?tsuka gehen auch die Techniken zurück, die Anzahl der Bilder pro Sekunde dynamisch an den Handlungsablauf anzupassen und wichtige Szenen oder Teilabschnitte eines Anime durch besonders sorgfältige Animation hervorzuheben und den Rest aus Kostengründen eher schlicht zu halten.

Das goldene Zeitalter

Bislang waren Kinder das hauptsächliche Zielpublikum für Anime gewesen. Am 24. Oktober 1971 begann jedoch die Ausstrahlung der Serie Lupin III, die nach dem Vorbild der Arsène-Lupin-Romane des französischen Schriftstellers Maurice Leblanc die Abenteuer eines Meisterdiebes schilderte. Dies war die erste Anime-Serie, die sich gezielt an ein erwachsenes japanisches Publikum richtete und in einer realistisch angelegten Umgebung spielte. Obwohl die Serie zunächst schlechte Einschaltquoten hatte, wurde sie durch mehrere Wiederholungen schließlich zum Klassiker. Ihr Erfolg führte zu zwei weiteren Lupin-III-Fernsehserien, fünf Kinofilmen und noch heute in jährlichen Abständen produzierten Fernseh-Specials.

Obwohl bereits Ende der 1960er-Jahre erste Science-Fiction-Anime wie etwa Cyborg 009 entstanden, begann sich diese Richtung erst in den 1970er-Jahren dauerhaft zu etablieren. Dabei entwickelten sich die Geschichten, die ursprünglich zumeist auf den Sieg über einen zentralen Superschurken und dessen Helfer fixiert waren, weiter zu komplexeren Handlungen, in denen sich Gut und Böse oft nicht mehr eindeutig festlegen ließen. Das anfängliche Experimentieren mit Stil- und Handlungselementen führte zur Etablierung noch heute gültiger Standards, wobei sich gerade Endzeitutopien häufig im reichhaltigen geschichtlichen Fundus des Zweiten Weltkrieges bedienen.

Das von Osamu Tezuka 1961 gegründete Studio Mushi Productions ging 1973 in Konkurs (um bereits 1977 wieder neu aufgebaut zu werden), und seine ehemaligen Angestellten gründeten das Studio Madhouse oder wechselten zu ebenfalls neu gegründeten Studios wie Sunrise. Dadurch gelangten junge Talente in leitende Positionen, die experimentierfreudig und neuen Entwicklungen gegenüber aufgeschlossen waren.

Einer dieser neuen Versuche war die von Isao Takahata und Hayao Miyazaki gemeinsam geschaffene und von Zuiyo Enterprise produzierte Anime-Serie Heidi nach einem Roman der Schweizer Schriftstellerin Johanna Spyri, die Anfang Januar 1974 ins Fernsehen kam. Ihr Erfolg veranlasste das 1975 in Nippon Animation umbenannte Studio zur Gründung des Projektes World Masterpiece Theater (kurz WMT). Ab 1975 wurde unter diesem Namen jedes Jahr eine Fernsehserie auf der Grundlage eines internationalen literarischen Werkes produziert, so etwa Niklaas, ein Junge aus Flandern nach einem Roman der Engländerin Marie Louisa de la Ramée, Marco nach einem Buch des Italieners Edmondo de Amicis oder Anne mit den roten Haaren nach einem Roman der Kanadierin Lucy Maud Montgomery. Obwohl viele herausragende Animationskünstler an diesen Serien mitarbeiteten und deren internationale Popularität auch heute noch unvermindert anhält, musste Nippon Animation das WMT-Projekt 1997 aufgrund finanzieller Probleme und nachlassender Einschaltquoten einstellen.

Die 1980er-Jahre werden auch als das „Goldene Zeitalter“ des Anime bezeichnet. Zu den vielfältigen Gründen hierfür zählen u. a. die Gründung neuer Studios von Weltrang, die Entwicklung neuer Medien und die zunehmende internationale Wahrnehmung von Anime als ernst zu nehmendem Bestandteil der Unterhaltungsindustrie.

Internationaler Durchbruch

Eine Sonderstellung in der Anime - Geschichte nimmt die Serie Neon Genesis Evangelion von Studio GAINAX ein, die auf der Grundlage der gesamten Weltgeschichte und mit Zitaten aus vielen Religionen, Philosophie und Naturwissenschaften eine komplexe Handlung aufbaut. Im Fokus stehen allerdings die Probleme und Zerwürfnisse der Figuren. Dies hat Neon Genesis Evangelion zur meistdiskutierten Anime-Serie aller Zeiten gemacht, deren Popularität auch heute noch unvermindert anhält.

Mit der Verleihung des Goldenen Bären der Berlinale und des Oscars an den Anime Chihiros Reise ins Zauberland schaffte das Anime-Genre den endgültigen internationalen Durchbruch. Chihiro wurde zugleich auch zum meistausgezeichneten Animationsfilm aller Zeiten.

Anime ist eine Abkürzung des englischen Begriffs animation (jap. anim?shon) und bezeichnet außerhalb von Japan, speziell in den westlichen Ländern, in Japan produzierte Animationsfilme. In Japan selbst steht Anime für alle Arten von Trickfilmen, für die im eigenen Land produzierten genauso wie für importierte.

Während europäische und amerikanische Zeichentrickfilme hauptsächlich auf ein jüngeres Publikum abzielen, kindgerechte Inhalte und Comedy daher im Vordergrund stehen und andere Genres eher Randerscheinungen darstellen, gibt es bei Anime ein breit gefächertes Themenspektrum für alle Altersstufen. Von Literaturverfilmungen (z. B. Das Tagebuch der Anne Frank) über Horror bis hin zu Sciencefiction werden nahezu alle Bereiche und Altersklassen abgedeckt. Auch gibt Genres bei Anime, die fast ausschließlich in diesen vorkommen, z. B. Mecha-Serien – Serien über haus- bis turmhohe Roboter. Ein Schwerpunkt der Produktionen liegt allerdings auch in Japan bei TV-Serien für Kinder und Jugendliche, denen oft etwas mehr „zugemutet“ wird als in westlichen Kinderfilmen üblich.

Diese Retrospektive wird mit dem KULTURVEREIN BSL – Breitenseer Lichtspiele veranstaltet. Ich danke Herrn Richard Pyrker von AniNite und Herrn Dirk Remmecke von Anime – Virtual für die Unterstützung bei dieser Retrospektive.

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